Da liegt er, der Meridianstein. Eine graue Weltkugel, geschlagene 1150 Kilogramm Lausitzer Granit, darauf eine Schiene aus Bronze. Hier, genau hier geschieht das Unbegreifliche: Die Zeit stößt an ihre Grenze. Genauer gesagt: an die fünfzehnte von links.
Links, das ist eine Sternwarte im Londoner Stadtteil Greenwich. Durch sie verläuft seit 1884 die Ursprungslinie unserer Zeitrechnung: der Nullmeridian. Von hier aus spannen sich 360 Längengrade rund um die Weltkugel; geteilt durch die 24 Stunden des Tages bleiben 15 Längengrade pro Stunde. Und der fünfzehnte in östlicher Richtung verläuft exakt durch diese bronzene Schiene auf dem Görlitzer Meridianstein.
Es gab Zeiten, in denen nahm man das nicht so genau. Früher hatte jeder Ort seine eigene Uhrzeit: Wenn die Sonne am höchsten stand, war es zwölf Uhr Mittags. So einfach war das. Dann kam die Eisenbahn und machte alles kompliziert: 1879 hatte der kanadische Ingenieur Sir Sandford Fleming die Idee, Zeitzonen zu vereinheitlichen, um Fahrpläne einzuhalten – und erfand kurzerhand die Eisenbahnzeit. Fünf Jahre und einige internationale Meridiankonferenzen später wurde die Erde offiziell in vierundzwanzig Zeitzonen zerstückelt.
Die Idee, den Globus wie eine Melone in vierundzwanzig gleich große Stücke zu zerteilen und jedem Stück seine eigene Stunde zuzuweisen, erwies sich als arg theoretisch. Einige Staaten machten halbe Sachen. Indien zum Beispiel konnte sich partout nicht entscheiden und liegt nun viereinhalb Stunden östlich von Mitteleuropa. Doch damit nicht genug: Nepal hatte es satt, in einen Topf mit Indien geschmissen zu werden und bestand darauf, sich auch zeitlich vom großen Bruder abzugrenzen. So ist es in Nepal heute exakt vier dreiviertel Stunden später als in Berlin.
Wer heute in Tonga los fliegt, kommt gestern in Samoa an.
Und dann sind da natürlich die Chinesen. China erstreckt sich geografisch über ganze fünf Zeitzonen – doch weil in der Volksrepublik alle Uhren gleich ticken müssen, gilt landesweit die Peking-Zeit. Spaziert man also mittags um zwölf über die chinesische Westgrenze nach Tadschikistan, ist es auf einen Schlag wieder neun Uhr morgens.
Der Trick, durch Grenzüberschreitungen Zeit zu gewinnen, funktioniert aber nirgends so gut wie im pazifischen Ozean. Zwischen weißsandigen Palmeninseln zerschneidet die Datumsgrenze das türkisblaue Meer. Wer heute in Tonga los fliegt, kommt gestern in Samoa an.
All dies ist sehr verwirrend, nicht nur für südpazifische Ureinwohner. Also kommen wir zurück zum Anfang und betrachten die Dinge einmal von einer ganz anderen Seite: Was eigentlich hält die Zeit selbst davon, ständig vermessen, geteilt und zerstückelt zu werden?
Sieht man genau hin, hier am Görlitzer Meridianstein, erkennt man, dass die Zeit von alledem nicht sehr beeindruckt ist. Sie tut, was die Zeit eben so tut: Die Eichen haben den grauen Stein mit den Jahren grün gefärbt, auf seinem Sockel wächst geduldig das Moos und die bronzene Schiene hat in aller Ruhe Patina angesetzt.
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