Vor dreißig Jahren zog Jürgen Bergmann in den Wald, um als Einsiedler zu leben - heute besuchen ihn 100.000 Menschen pro Jahr. Mit Schnitzmesser und Kettensäge verwandelte er seinen Bauernhof in einen skurrilen Abenteuerpark. Die Geschichte eines Außenseiters, der sich das Reich seiner Träume zimmerte.
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Bergamos Königreich: Übernachten bei Trollen und Geistern (Alle Fotos: Oliver Reinhardt)


Trollpforte heißt der Eingang des Abenteuerparks, dahinter liegen fünf Hektar wild gewordene Phantasie. Kinder reiten auf riesigen Fabeltieren, bewacht von Baumskulpturen mit weit aufgerissenen Augen. In den Wipfeln hängen windschiefe Baumhäuser, kleine Jungs klettern Strickleitern hinauf und toben über Hochbrücken. Die Kinder tragen am helllichten Tag Kopflampen - düstere Eingänge führen in ein weit verzweigtes Tunnelsystem. Im Zauberwald versinken Grabkreuze zwischen schwarz-weiß gestreiften Kiefern, aus den Vogelhäuschen streichen tiefe Geigen, und in der Rutsche des Geisterschlosses wimmern gefangene Seelen.

In Zentendorf, einem Ort mit zweihundert Einwohnern im Niemandsland an der Grenze zu Polen, hat sich Jürgen Bergmann das Reich seiner Träume gebaut. Vor fast drei Jahrzehnten zog der gelernte Holzfäller und Holzbildhauer auf einen verlassenen Waldbauernhof. Er kam, um als Einsiedler zu leben - heute besuchen ihn über 100.000 Menschen im Jahr.

Die „Kulturinsel Einsiedel“ ist ein Abenteuerpark mit eigener Kunstgalerie, fünf Bühnen, zwei Restaurants und einem Café. 250 Gäste können hier übernachten, vierzig von ihnen schlafen zwischen den Baumkronen, in Deutschlands erstem Baumhaushotel. In den Vitrinen des Museums liegen Ausgrabungen einer verschollenen Hochkultur, der Turiseder. Der Hund Uschi hat sie beim Buddeln gefunden - so zumindest steht es in der parkeigenen Zeitung, dem „Irrgärtner Boten“. Turi Sede ist auch der Name des Comics, in dem sich Mitarbeiter und Familienmitglieder in Waldgeister, Trolle und Elfen verwandeln. Ihr Anführer ist ein weiser Mann mit Bart und langen weißen Haaren: Bergamo, der Waldkönig.

Statt zu lernen baut der Junge Baumhäuser und erfindet Spiele
Jürgen Bergmann stapft durch seinen Wald, die langen grauweißen Haare zum Zopf gebunden. Er bleibt stehen und wirft einen prüfenden Blick in die Wipfel. Das ist sie, schlank und gerade. Er reißt am Seilzug seiner Kettensäge und einen langen Schrei später kracht die Kiefer zu Boden. Schon morgen soll sie als Blitzableiter hoch oben auf dem Dach des Krönums thronen, seinem neuesten Bauprojekt, einem Theater-Restaurant für zweihundert Gäste.

Jürgen Bergmann alias Bergamo, der Waldkönig

Jürgen Bergmann kommt 1957 im ostdeutschen Zittau zur Welt. Die Wurzeln seiner Naturliebe liegen tief, schon sein Ururgroßvater war Gärtner. Der Junge wächst in der Gärtnerei seiner Eltern auf, wer ihn sucht, findet ihn in der Wildnis zwischen Bäumen, Büschen und Sträuchern. Am dritten Tag im Kindergarten ruft die Kindergärtnerin an: „Den Jungen müsst ihr wieder heimholen. Der redet mit niemandem und läuft den ganzen Tag am Zaun auf und ab wie ein gefangenes Tier.“ Sein Vater holt ihn zurück nach Hause, nach „Kentucky“ – so nennt er das verwucherte Armeegelände, auf dem er Pfeil und Bogen schnitzt und Wachtposten angreift.

Die Schule macht ihm Probleme. Mit Zahlen kann er nicht viel anfangen, das Schreiben fällt ihm schwer. Statt zu lernen, baut er Baumhäuser und erfindet Spiele. Mit zehn baut er sein Kinderzimmer aus, mit vierzehn zimmert er sich eine Hütte im Gebirge. Mit sechzehn, die Schule ist endlich vorbei, packt er seinen Rucksack und trampt durch Polen und die Tschechoslowakei.

Bei der Armee schnitzt er Indianer für die Offiziere
In der Holzfällerlehre ist er der Beste, niemand ist an der Säge so geschickt wie er. Während eines Praktikums wohnt er auf einem einsamen Bauernhof in den Wäldern der Neißeaue. Dem alten Mann, dem der Hof gehört, sagt er: Wenn Sie verkaufen, dann nur an mich.

Bei der Armee schnitzt er Indianer für die Offiziere, danach macht er eine Ausbildung zum Holzbildhauer. Er leiht sich Geld vom Vater und kauft für 10.000 Ostmark den Hof des alten Mannes. Er tingelt über Volksfeste und Mittelaltermärkte, verkauft selbst gemachte Kerzenständer und Butterförmchen. Wenn er genug eingenommen hat, zieht er sich zurück in seinen Wald und schnitzt Fratzen in knorrige Birken.

Mit der Wende kommen die Probleme. Im Osten gibt niemand mehr Geld aus, weil alle auf einen Westwagen sparen; im Westen importieren sie Butterförmchen aus der dritten Welt. Er muss sich etwas einfallen lassen – und ihm fällt etwas ein: Er macht alles eine Nummer größer. Am 1. Juli 1990, dem Tag der Währungsunion, gründet er eine Firma, die Künstlerische Holzgestaltung Jürgen Bergmann.

Heute zimmert die Firma windschiefe Bauwerke in ganz Europa: ein Baumhausdorf in Nizza, eine Westernstadt in Cordoba und einen Spielplatz für das Hilton Hotel an der Algarve. Jedes Werk ein Unikat. „Wir arbeiten wie ein Einzelkünstler. Alles, was wir bauen, bauen wir nur ein Mal.“

Jürgen Bergmann steht in Sandalen, staubiger Jeans und speckigem Hemd auf der Baustelle des Krönums, der neuen Krönungshalle, deren Blitzableiter er heute Morgen gefällt hat. Eine Großbaustelle ohne rechten Winkel, Bäume statt Balken, Äste statt Brettern. Fünfzig Arbeiter sägen, hämmern und bohren in diesem Labyrinth aus krummen Treppen und schiefen Brücken. Sie haben es eilig: In drei Tagen steigt die Generalprobe. Und das Krönum ist noch ein halbes Gerippe.

Vor dem Chefbüro steht ein Pfau, aus einem Käfig flüstert der Kakadu
Baupläne gibt es nicht, Ideen werden zu Pappentwürfen und später zu Modellen aus Holz. Diese Miniaturen werden vermessen und nachgebaut – fünfundzwanzig Mal größer. „Du hast ein Projekt und weißt schon vorher, dass ganz viele große Probleme entstehen.“ Und für das bisher größte Projekt auf der Kulturinsel, das Krönum, gibt es nicht einmal ein Modell. „Eigentlich sollte dies hier nur ein kleiner Frühstücksraum werden“, sagt Jürgen Bergmann und grinst. Und wenn er grinst, ganz breit, die buschigweißen Brauen weit hochgezogen, dann strahlt in ihm der fünfjährige Junge aus Kentucky.

Eine Großbaustelle ohne rechten Winkel: das Theater-Restaurant Krönum

Zahlen machen ihm immer noch Probleme. Er erinnert sich nicht, in welchem Jahr er den Hof gekauft hat; er ist sich nicht sicher, ob er zwanzig oder dreißig Hektar Land besitzt. Und wie viele Mitarbeiter er hat, weiß er immer nur kurz vor Weihnachten: Über 130 Geschenke musste er im vergangenen Jahr kaufen. Die lästigen Zahlen führen zu ernsten Schwierigkeiten: „Ich weiß noch nicht, wie ich den Lohn für diesen Monat zahlen soll: weit über 200.000 Euro. Wir kämpfen um die Existenz.“

Der Weg ins Chefbüro führt vorbei an einem Gehege mit Hühnern und Graugänsen, ein freilaufender Pfau hat die Federn aufgestellt, aus einem Käfig flüstert Coco, der sprechende Kakadu. Über die Veranda seines Wohnhauses und eine schmale Holzbrücke gelangt man in Jürgen Bergmanns Büro. Von einem Wandregal baumeln die Füße der Stofffiguren Modelpfutz und Bodelmutz, zwei Helden aus dem Turi-Sede-Comic. Auf der Fensterbank stehen ausgestopfte Fabeltiere, zusammengesetzt aus Hasenfell, Hechtmaul und Hühnerfüßen, daneben stapeln sich Kinderbücher: „10 kleine Zwerge“, „Mama Muh räumt auf“ und „Alles über Piraten“.

Jürgen Bergmann trägt Socken in seinen Sandalen, links schwarz, rechts weiß, genau anders herum als gestern. „Wir haben hier eine ernste Sache“, sagt er und schließt die Tür, um das Gekreische der Kettensägen zu dämpfen.

Die Gäste des Krönums tragen Turbane und bunte Kaftans
Er hat seine Führungsriege zusammengerufen: zwei Bauleiter, eine Architektin, eine Buchhalterin und seine Schwester Elke. Die Bank fordert eine Übersicht über die Gesamtkosten des Krönums, jetzt, drei Tage vor Fertigstellung. Vor ihm liegen zwei handgekrakelte Zettel: „Ich gehe das jetzt mal durch, ohne direkte Logik.“

Kritischer Blick: Bergmann im Gespräch mit Vorarbeitern

Hinter dem Wort Brandschutz steht eine 20. Soll heißen: Er schätzt 20.000 Euro. Keiner der Anwesenden weiß Genaueres. Statikprüfung? Der Bauleiter kann es nicht sagen: „Da müsste ich jetzt ins Blaue schätzen.“
„Na gut“, sagt Jürgen, „tausendfünfhundert.“ Auf seinem Zettel notiert er 1,5.
Die Musikanlage kostet sechsundvierzigtausend, mit Duftmaschine und Steuerpuls, die Küche hundertsiebenundsechzigtausend.
„Wovon reden wir hier eigentlich?“ fragt der Bauleiter, „Brutto oder Netto?“ Sicher ist sich niemand.
Das Telefon klingelt. Nach einem kurzen Gespräch sagt Jürgen: „Die haben den Brandschutz heruntergerechnet: auf viertausend.“ Er streicht die 20 auf seinem Zettel durch und schreibt eine 4 daneben.

Drei Tage später, Generalprobe im Krönum: Jürgen Bergmann kniet in einem rotgolden bestickten Kaftan neben drei Elektrikern in Blaumännern und ruckelt an einer Trommelsteckdose. Er ist nervös: Einige Sitzebenen sind noch dunkel, woanders regnet es rein, ganz oben fehlt noch eine Tür. Und draußen warten schon die Gäste, hundertfünfzig Mitarbeiter, Freunde und Bekannte, Testpublikum für das große Rollenspiel, bei dem zwölf Königsanwärter während eines Vier-Gänge-Menüs um die Thronfolge kämpfen. Sie haben Turbane aufgesetzt und tragen bunte Kaftans, jede Sippe ihre eigene Farbe. Seit einer Stunde warten sie im Nieselregen.

Dann, endlich, öffnet sich die schwere Holztür. Jürgen Bergmann tritt vor sein Volk und ruft: „Folgt mir!“ Und sie folgen ihm, König Bergamo, dem Herrscher von Turi Sede.


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