Interview
„Das größte Problem ist die Assimilation!“
„Wir müssen uns Sorgen machen“, sagt Dietrich Scholze, Direktor des Sorbischen Instituts in Bautzen. Der Experte erforscht Sprache und Kultur des westslawischen Volkes. Ein Interview über Gastfreundschaft, Mischehen und die Zukunft der Sorben.

„Die Sorben werden nicht aussterben – zumindest nicht in diesem Jahrhundert“, sagt Dietrich Scholze, Direktor des Sorbischen Instituts in Bautzen (Foto: Eric Vazzoler)

Herr Scholze, heute kann jeder sagen: „Ich fühle mich wie ein Sorbe – also bin ich jetzt einer.“ Das Bekenntnis reicht. Bei Ihnen war es auch so, wie kam es zu diesem Entschluss?

Eigentlich ist meine Frau schuld, die ist gebürtige Sorbin. Es gibt da eine Art Schlüsselerlebnis, daran erinnere ich mich noch: Als wir noch nicht verheiratet waren, hat sie mich einmal zu einer Party eingeladen – ich habe an dem Abend kaum etwas verstanden, weil alle um mich herum sorbisch gesprochen haben!

Und da haben Sie gedacht: „Jetzt werde ich Sorbe“?

Sagen wir es so: Der Abend hat mir zu denken gegeben. Zum Sorbentum habe ich mich erst später bekannt. Ich dachte mir: Es kann nicht sein, dass ich als Slawist und Mann einer sorbischen Frau kein Sorbisch spreche! Aber das Interesse für die Kultur war vorher schon da. Ich bin ja in Bautzen geboren und mit der sorbischen Kultur aufgewachsen.

Was ist das Besondere an den Sorben?

Es gibt nicht ein sorbisches Volk – sondern die Ober- und die Niedersorben. Die werden oft in einen Topf geworfen, aber es ist schwierig, sie als Einheit zu betrachten. Allein aus sprachwissenschaftlicher Sicht sind das zwei verschiedene Dinge: Das Ober- und das Niedersorbische unterscheiden sich stärker als beispielsweise Slowakisch und Tschechisch, es sind eigentlich zwei verschiedene slawische Sprachen – und auch zwei verschiedene Mentalitäten.

Gibt es trotzdem Gemeinsamkeiten?

Die Sorben sind allgemein ein sehr gastfreundliches Volk. Das kommt wohl daher, dass sie bis vor kurzem noch ein Bauernvolk waren. Wenn man bei Sorben eingeladen ist, passiert es einem nicht, dass nach einem Glas Wein Schluss ist oder man nicht satt wird. Das ist ganz anders als bei den übrigen Deutschen.

Ein sympathisches, kleines Volk, das aber ums Überleben kämpft.

Das stimmt. Das größte Problem ist die natürliche Assimilation. Zugespitzt könnte man sagen: Der Hauptfeind für die Zukunft der Sorben ist die Mischehe.

Das ist eine sehr polemische These!

Das ist nicht rassistisch gemeint, ich selbst lebe ja auch in einer. Aber es gibt einfach Statistiken, die sagen, dass von 100 deutsch-sorbischen Mischehen 90 bei der Kindererziehung und im Alltag die deutsche Sprache bevorzugen. Bei mir und meiner Frau war das anders, ich habe damals zu ihr gesagt: „Ok, ich lerne Sorbisch.“ Aber das ist leider nicht die Regel. Dabei ist der Spracherhalt von oberster Wichtigkeit, damit eine Kultur fortbestehen kann.

Ist die sorbische Kultur gefährdet?

Ja, wir müssen uns Sorgen machen. Ende des 19. Jahrhunderts lebten noch 166.000 Sorben in beiden Lausitzen – ein Jahrhundert später sind es rund 100.000 weniger! Die Assimilation verläuft heute viel schneller als früher. Schon allein deshalb, weil Kultur nicht die höchste Priorität ist im Leben eines Menschen hat.

Was bedeutet das?

Jeder Mensch denkt ökonomisch, kümmert sich also zuerst darum, dass er eine Wohnung hat und seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Erst dann kann er sich auch um den Erhalt von Kultur, von Sprache und Traditionen kümmern. Wenn also ein junger Mensch, der zufällig Sorbe ist, hier in der Gegend keinen Job findet, aber beispielsweise in München, dann wird er abwandern – und er wird dort bleiben und höchstwahrscheinlich in Zukunft mehr Deutsch als Sorbisch sprechen.

Also gibt es bald keine Sorben mehr?

Wir haben heute noch etwa 70 Dörfer im katholisch-sorbischen Kerngebiet, dort besitzt das Sorbische in Sprache und Kultur ein Übergewicht. In diesem Gebiet liegt auch die Geburtenrate höher als in anderen, nichtsorbischen Regionen. Ein Teil der jungen Leute wird dort bleiben, Familien gründen, sorbisch als Muttersprache normal sprechen und größtenteils an die Kinder weitergeben. Also nein, die Sorben werden nicht aussterben – jedenfalls nicht in diesem Jahrhundert.

Die Fragen stellte Esther Göbel